Insel der Stürme 1: Die Priesterin der Türme

Amra¸ die junge Totenpriesterin der Stadt Caláxi¸ trifft auf ihrem Rückweg von einem Bestattungsritus auf einen Fremden. In den unsicheren Zeiten¸ in denen sie leben¸ bedeutet jeder Fremde eine Bedrohung. Amra schickt ihm die Reiter der Stadt hinterher. Doch als diese den Fremden eingekreist haben¸ stellt sich heraus¸ dass er ein Kind bei sich hat. Ein Mädchen mit türkisfarbenen Augen - ein verlorenes Kind!
Den Prophezeiungen nach wird ein solches Kind einst den Untergang der Türme heraufbeschwören. Die Bürger Caláxis betrachten das Kind und seinen Begleiter deshalb voller Unbehagen. Auch Corun¸ erster Reiter der Stadt und ihr oberster Hüter¸ traut dem Fremden nicht über seine eigene Nasenspitze hinaus. Und das hartnäckige Schweigen des Fremden auf jegliche Fragen trägt auch nicht dazu bei¸ die Lage zu entspannen.
Als die Hohepriesterin Caláxis schließlich verkündet¸ das Mädchen müsse getötet werden¸ nehmen die Ereignisse eine dramatische Wendung ...
Charaktere
Amra ist ein Querkopf. Seit sie erwachsen ist¸ scheint all ihr Tun aus Widerstand zu bestehen¸ selbst wenn ihr das gar nicht unmittelbar bewusst wird. Sie überwirft sich mit ihrer Familie¸ weil sie lieber ein Leben als Unberührbare führt anstatt als angesehene Priesterin der Quelle zu dienen. Und entgegen aller Überlieferungen und Überzeugungen ihrer Stadt setzt sie ihr Leben ein¸ um das ungewöhnliche kleine Mädchen zu beschützen. Ihre Entscheidungen trifft sie aus dem Bauch¸ nicht aus dem Kopf. Und das ist nur gut so¸ denn ihr ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und ihre Intuition gehen tiefer als das Offensichtliche.
Gorun dagegen ist ein Hitzkopf. Schon bevor sein jüngerer Bruder einem grausamen Mord zum Opfer fiel¸ wusste Gorun¸ dass die Stadt bedroht ist. Jetzt plagen ihn Schuldgefühle und die Angst¸ in seiner Aufgabe zu versagen. Dass der Fremde¸ den seine Reiter aufgegriffen haben¸ ihm keine Antworten auf seine Fragen gibt¸ reizt ihn zusätzlich. Kein Wunder also¸ dass auch bei ihm die letzte Entscheidung nicht vom Verstand¸ sondern von seinem Gefühl getroffen wird. Dabei mag auch seine Achtung vor Amra beigetragen haben¸ vor allem aber die Tatsache¸ dass Goruns Wesen in erster Linie darauf ausgerichtet ist¸ die Hilflosen zu beschützen¸ nicht zu töten.
Jemren¸ der Fremde aus dem Norden¸ dagegen ist die Selbstbeherrschung in Person. Er gibt keine Antwort¸ verrät keinerlei Gefühle¸ vor allem nicht Gorun gegenüber. Sein alleiniges Ziel ist es¸ das Kind zu schützen. Dabei weiß er gar nicht¸ warum er sich überhaupt mit dem Mädchen eingelassen hat. Jemren ist auf der anderen Seite der Insel aufgewachsen¸ wo weder die alten Götter noch die alten Lieder und Legenden von Bedeutung sind und Verschlossenheit zu den höchsten Tugenden gehört. Die Menschen sind in diesem kargen¸ rauen Teil der Insel so mit dem eigenen Überleben beschäftigt¸ dass sie für niemanden außerhalb ihrer eigenen Stadt etwas übrighaben¸ nicht einmal für die anderen Städte ihres eigenen Volkes.
Der Autorin ist es gelungen¸ jedem von den dreien Tiefe und Glaubwürdigkeit zu verleihen¸ indem sie - ganz ohne Schwarz-Weiß-Malerei - den Kampf ihrer Protagonisten beschreibt¸ die jeder für sich eine Kluft aus Vorurteilen¸ Misstrauen und generationenaltem Hass zu überwinden haben¸ weil sie aufeinander angewiesen sind¸ um zu überleben.
Handlung
Die Handlung ist in drei Ebenen geteilt¸ geschildert jeweils aus der Sicht eines der drei Hauptprotagonisten.
Der erste Teil erzählt von den Ereignissen in Canáxi. Dieser erste Teil vermittelt vor allem den Eindruck von Verwirrung. Das liegt zum einen daran¸ dass aus Amras Sicht erzählt wird. Amras Intuition bezüglich des Mädchens widerspricht den alten Überlieferungen¸ von deren Wahrheitsgehalt Amra nach wie vor überzeugt ist¸ außerdem versteht sie nicht¸ was die Kleine ihr so dringend zu erklären versucht. Zum anderen liegt es an dem Chaos¸ das die Katastrophe in der Stadt anrichtet. Die Autorin hat hier sehr gut die Stimmung in einer Stadt eingefangen¸ die auf ihren Untergang zusteuert¸ den die Einwohner auf der einen Seite nicht wahrhaben wollen¸ auf der anderen aber krampfhaft abzuwehren versuchen¸ und das mit Mitteln¸ die nicht wirken können¸ da niemand die wahre Ursache erkannt hat.
Nach der Zerstörung Canáxis erzählt der zweite Teil von der Hetzjagd durch die Wüste. Jemren versucht¸ die Kleine nach Osten zu bringen¸ weil sie dort unbedingt hinwill. Gorun macht ihm dabei das Leben schwer¸ nicht nur¸ weil er ihm nicht traut¸ sondern auch¸ weil er das Gelände kennt und davon überzeugt ist¸ dass es dort keine Rettung gibt. Die Flucht durch die Trockenen Hügel wird zur körperlichen Strapaze und gleichzeitig zum zermürbenden geistigen Duell zwischen den beiden Männern¸ das nur deshalb nicht in einem bewaffneten Zweikampf endet¸ weil beide keine Halunken sind. Allerdings resultiert aus den nachlassenden Kräften der Fliehenden auch¸ dass Jemren sich allmählich seinen Begleitern ein Stück öffnet¸ und damit letztlich auch wachsendes Verständnis füreinander.
Im letzten Teil raufen sich die beiden Männer zusammen¸ um ihre kleine Gruppe endlich von ihren Verfolgern zu befreien¸ was die Nraurn etwas mehr in den Vordergrund rückt.
Die Nraurn sind das zweite Volk¸ das die Insel bewohnt. Was genau sie sind¸ erfährt der Leser nicht¸ und die Beschreibung beschränkt sich auf Hörner¸ Bärte und Mähnen. Ihre Reittiere sind Naur¸ eine Mischung aus Ziege und Pferd. Die Nraurn sind in viele Stämme gespalten¸ und der kriegerischste unter ihnen¸ die Bahan¸ versucht¸ die Nraurn zu einen¸ was einigen der anderen Stämme gar nicht gefällt. Den Bahan sind sie aber offenbar nicht gewachsen.
Die Bahan wollen aber nicht nur die Nraurn einigen¸ sie wollen auch die Insel von den Menschen befreien. Die Menschen kamen nach ihnen auf die Insel¸ und die Nraurn empfinden diese als Eindringlinge und Räuber¸ von denen sie aus den fruchtbaren Regionen in die Wüste abgedrängt wurden. Um die alleinige Herrschaft über die Insel zurückzuerlangen¸ sind sie bereit¸ mit dem dunklen Gott des Todes einen Pakt zu schließen. Er soll die Menschen mit Stumpf und Stiel ausrotten. Doch für diesen Gefallen verlangt der Gott einen Preis. Und dieser Preis ist das Mädchen¸ das verlorene Kind ...
Spätestens an dieser Stelle wird klar¸ dass das Mädchen¸ das lediglich seinen Namen Lillia wei߸ mehr ist¸ als selbst die alten Überlieferungen der südlichen Türme besagen. Es besitzt kein Taú¸ nichts von der innersten Kraft eines Lebewesens¸ das seine Seele an seinen Körper bindet. Dafür ist es offenbar ein Gefäß uralter und unermesslicher Kräfte¸ die es zwar einsetzen kann¸ von denen es aber gleichzeitig keinen Begriff hat. Lillia weiß nichts über alltägliche Dinge¸ dafür kennt sie Geheimnisse des Universums¸ von denen sonst niemand etwas weiß. Sie besitzt ungeheure Macht¸ spricht und denkt aber trotzdem wie ein Kind¸ und ist genauso verängstigt und schutzbedürftig. Und sie ist der Schlüssel zum Schicksal der Insel ... Diese Erkenntnis erreicht letztlich sogar Gorun.
Insgesamt
Ich fand das Buch durchaus gelungen. Es strotzt nicht gerade vor Magie: Von den diversen Göttern ist bisher nur der finstere Totengott Antiles aufgetaucht¸ und der Umfang von Lillias geheimen Kräften dürfte auch noch nicht im vollen Umfang offenbar geworden sein. Dafür hat sich die Autorin mehr auf ihre Charaktere konzentriert¸ deren Beziehungen zueinander gleichzeitig die Kultur und einen Teil der Historik dieser Welt widerspiegeln und ein realistisches Bild davon zeichnen¸ wie schwer es ist¸ einen jahrhundertealten Riss aus Hass und Verbitterung wieder zu kitten¸ selbst wenn bei einem Misserfolg der völlige Untergang droht.
Auch die Spannung kam nicht zu kurz¸ lediglich das Versteckspiel in den Trockenen Hügeln zog sich kurzzeitig ein wenig. Die Szenarien der drei verschiedenen Teile boten jedoch genug Abwechslung¸ um keine echte Langeweile aufkommen zu lassen.
Insgesamt ein gelungener Auftakt¸ der von seinen Kontrasten lebt¸ sei es der Konflikt zwischen Gorun und Jemren oder Lillias seltsam zwiespältiges Wesen. Sowohl der historische Hintergrund als auch die Magie bieten noch viele Ausbaumöglichkeiten. Die Kluft zwischen Nord und Süd¸ die bisher nur innerhalb einer kleinen Gruppe überwunden wurde¸ bedeutet eine enorme Herausforderung¸ und die Königin der Nraurn wird in dieser Zeit sicherlich nicht untätig bleiben.
Die Autorin
Heide Solveig Göttner studierte Anglistik und arbeitet als Dozentin für Englisch und Deutsch in Freiburg. Außer einem Faible für archäologische Stätten hat sie eine Vorliebe für Inseln¸ beides hat sich offenbar in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit niedergeschlagen. "Die Priesterin der Türme" war ihr Debütroman; dessen Fortsetzung "Der Herr der Dunkelheit" erschien im März dieses Jahres. Band 3¸ "Die Königin der Quelle"¸ ist für 2008 angekündigt.
Eine Rezension von: Birgit Lutz http://www.buchwurm.info/
