Edgar Allan Poes phantastische Bibliothek 2: Das Alptraum-Netzwerk

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Das universelle Rollenspiel-Fanzine Greifenklaue wurde bereits 1997 von Mitgliedern der Pfadfindergruppe Mantikore als gedrucktes A4-Heft ins Leben gerufen und eroberte ab 2005 auch das Internet. Neben dem gedruckten Fanzine betrieb Ingo aka "Greifenklaue" vor allem einen Blog, einen Podcast und ein eigenes Forum. Zur großen Bestürzung der Rollenspiel-Szene verstarb Ingo Schulze am Freitag den 26.11.2021. |
Der amerikanische Autor Thomas Ligotti setzt die Reihe "Edgar Allan Poes phantastische Bibliothek" aus dem BLITZ-Verlag fort mit dem Band "Das Alptraumnetzwerk". Drei Kurzgeschichten samt einem Nachwort von Thomas Wagner zu Ligottis Werken umfasst der Band.
Dabei betritt der Nischenautor Ligotti auch neue Pfade, sein Werk, im Original unter "My work is not yet done - Three tales of corporate horror" erschienen, thematisiert den Wirtschafthorror.
"Der Lohn des Lebens - Meine Arbeit ist noch nicht erledigt" ist mit über 100 Seiten die längste Geschichte und schickt uns in das Berufsleben von Frank. Er ist eine Bürokraft in führender Position, zwar in gewisser Weise mit dem Job zufrieden ist (nicht zu viel Verantwortung, noch Zeit fürs Hobby), hat aber ständig das Gefühl hat, gemobbt zu werden. Auf der regelmäßigen Fachleiterkonferenz präsentiert er einen innovativen Vorschlag, der aber sofort von dem "Doktor und seinen sieben Schweinchen", alias Chef und Kollegen, abgelehnt wird. Kaum ist sie vorbei, kommt sein Chef Richard auf ihn zu und möchte seinen Vorschlag, den Frank in seiner Freizeit ausgearbeitet hat, zugemailt bekommen. Frank beschließt aber, diesmal nicht systemkonform zu handeln und ihm seine Arbeit nicht zukommen zu lassen. In der Folge hat er wieder das Gefühl gemobbt zu werden. Wurde die abgeschlossene Schublade, in der die Unterlagen liegen, in seiner Abwesenheit heimlich geöffnet? Sind die Blätter verschoben worden? Liegt ein Haar dazwischen?
Aber auch die Kollegen heizen ihm ein. Perry guckt ihn, gerade als er aus der Tür raus ist, mit seltsamen Blick an, meint er im Augenwinkel zu erkennen. Einbildung? Mary hingegen bringt ihm beim Zusammentreffen im Büro dazu, ihr auf's Hinterteil zu starren, während sie etwas aufhebt - in dem Moment kommt eine der Vizepräsidentinnen hinein. Geplant? Und als Kerrie ihre Briefmarkenrolle vermisst, kommt sie überraschenderweise zu Frank, um sich welche auszuleihen und - Überrschung - findet dort ihre Rolle wieder. Platziert? Schließlich will Richard Franks Vorschlag an die Abteilung "Neues Produkt" weiterleiten, aber auf Nachfrage dort haben man nichts davon gehört. Bei einem weiteren Meeting kommt Frank zwar pünktlich, aber alle sind schon längst da und haben begonnen. So wird ein neuer Ausschuß gebildet, der Umstrukturierungsmaßnahmen planen soll, wobei Frank Barry assistieren soll.
Kurzum, Frank gerät immer mehr ins berufliche Abseits, bis er schließlich entlassen wird und kurz davor ist Amok zu laufen. Was aber passiert, wenn diesem Menschen die Möglichkeit zur Rache gegeben wird? Gerechtigkeit zu erlangen? Hinter die Kulissen zu schauen? Im zweiten Teil wandelt sich die Geschichte und lässt Frank zu einem blutrünstigen Monster werden, der grausame Rache üben kann und jedes Mobbing "Auge um Auge, Zahn um Zahn" zurückzahlen kann.
Ligotti baut geschickt eine paranoide Atmosphäre auf. Ob es tatsächlich Mobbing oder pure Paranoia ist, bekommt der Leser erst in zweiten Teil mit. Daneben ist der Arbeitsalltag als beklemmend, in keiner Weise erfüllend dargestellt. Nie wird Ligotti konkret, er bleibt bei "innovativen Vorschlägen" oder dem "neuen Produkt". Dadurch können sich breite Leserschichten mit der von ihm erschaffenen Situation identifizieren: Jeder, der schon mal in einem Büro gesessen hat, wird viele Situationen sofort nachvollziehen können. Auch die Entfremdung des Unternehmens vom Arbeitnehmer, wie sie auch heute im Zuge der Globalisierung immer wieder diskutiert wird, nutzt die Geschichte als Storyelement. Frank kann sich in keiner Weise mit dem Unternehmen identifizieren; im Gegenteil, er bewundert einen Kollegen, der es geschaft hat in eine Nische ohne lästige Verantwortung und Vorgesetzte zu rutschen. Typisch ist es schließlich, dass es Franks Hobbys ist, die Ruinen am Rande der Stadt und Müllberge zu fotografieren, was Licht in seinen grauen Alltag bringt. Im zweiten Teil wirft Ligotti die Handlung dann komplett um und überrascht, sicherlich auch dadurch, dass er Licht in die wahren Geschehnisse der Firma bringt.
In "Die Wiederkunft der Toten" geht es um eine Bürokraft der Blaine Company. Die Firma ist vor einiger Zeit in die "Goldene Stadt" umgezogen, die einstmals als "Mordstadt" bekannt war. Und tatsächlich, im gelben Nebel der Stadt verschwindet Abteilungsleiter um Abteilungsleiter und unterstützt damit (un-?)freiwillig den Umstrukturierungsplan der Manager...
Die "Geschäftsauflösung" erzählt in Kleinanzeigen, Memos, Notizen und Kurzberichten von der Firma OneiriCon, die sich sozusagen selbst wegrationalisiert und überflüssig macht. Der Mensch ist vollkommen aus dem Blickfeld des Unternehmens entrückt, einzig die Steigerung des angekündigten Gewinns interessiert noch.
Alle drei Geschichten sind natürlich auch eine deutliche Kritik am vorherrschenden Wirtschaftsystem und am umgreifenden Neoliberalismus unserer Zeit. Ligotti will hier keine Besserungsvorschläge anbringen oder konstruktive Kritik üben, er will mit diesem überspitzten Weltbild Angst machen - letztlich wird jeder eine Parallele zum eigenen Leben, zumindest aber zu den Schlagzeilen auf der Wirtschaftsseite seiner Tageszeitung ziehen können. Insofern ist Ligotti auch kein Mainstreamautor, das will er auch gar nicht sein. Seine Bilder sind so ungewöhnlich und zugleich zu vertraut. Er spielt nicht mit der Angst vor dem Unbekannten, sondern mit der Angst mit dem allzu Vertrauten.
Im Nachwort erstellt Thomas Wagner noch eine Biografie des Autors zusammen, die interessante Aspekte aufwirft. So, dass Ligotti an Depressionen und Platzangst leidet und er in seinem Arbeitsbereich der Gale Company einige Reorganisierungsversuche miterlebte.
Fazit: Die Serie hat sich auf die Fahnen geschrieben, unbekannte Autoren den Lesern näherzubringen, weit ab vom Mainstream eines Stephen King. Und genau das ist hier vortrefflich gelungen. Ligotti schreibt beklemmend, anders und erschreckend, denn der Bezug zum heutigen Zeitgeist tritt stark hervor. Wer also andere Horror-Pfade betreten möchte, dem sei die Reihe empfohlen.
Eine Rezension von: Ingo 'Greifenklaue' Schulze https://greifenklaue.wordpress.com/
