Schatten über Innsmouth

Unser Ich-Erzähler¸ ein junger Mann ohne Verpflichtungen und Geld¸ aber mit großem Unternehmungsgeist¸ unternimmt im Sommer des Jahres 1927 eine Reise durch Neuengland. Während eines Aufenthalts in Massachusetts hört er von der alten Hafenstadt Innsmouth¸ gelegen am Atlantik¸ aber in keiner modernen Landkarte verzeichnet. Das erregt sein Interesse¸ er beschließt einen Abstecher in diesen Ort¸ obwohl man ihm dringend abrät: Degenerierte Gestalten seien es¸ die in Innsmouth gern unter sich blieben und zudem Anhänger eines mysteriösen¸ ganz und gar unchristlichen Kultes seien.
Das hält unseren Helden nicht ab. Innsmouth entspricht den Schilderungen - eine Geisterstadt verfallender¸ leer stehender¸ düsterer Häuser¸ in denen es jedoch des Nachts lebendiger zugeht¸ als man es sich wünschen möchte. Die Bürger selbst¸ von froschähnlicher Gestalt¸ verhalten sich abweisend unheimlich (und umgekehrt). Nur ein "Zugereister"¸ ein uralter Seemann¸ versorgt den neugierigen Neuankömmling mit Informationen.
Demnach hat vor über einem Jahrhundert ein Kapitän namens Marsh im fernen Pazifik einen Teufelspakt mit amphibischen Seekreaturen geschlossen. Im Austausch gegen Gold und Macht erhielten diese junge Männer und Frauen aus Innsmouth¸ die ihrem Gott¸ dem furchtbaren Cthulhu¸ geopfert wurden. Außerdem begannen sich Menschen und Amphibien zu vermischen - die meisten Bürger der Stadt müssen heute als Nachfahren dieser ersten Mischwesen gelten.
Dass es sich hier beileibe nicht um eine Ausgeburt der Fantasie handelt¸ muss der Reisende bald erfahren. Am Teufelsriff vor dem Hafen von Innsmouth findet ein reger Austausch zwischen den Welten unter und über dem Meeresspiegel statt. Lange dauert es nicht¸ bis die Kreaturen erst auf ihren "Gast" aufmerksam werden und dann die Maske fallen lassen. Die Jagd beginnt¸ doch an ihrem Ende steht eine unerwartete Entdeckung ...
Eine Reise in einen verrufenen Ort¸ in dem es tatsächlich tüchtig umgeht¸ ein neugieriger Besucher¸ der beim Herumschnüffeln zuviel Aufsehen erregt und - seine mordlüsternen Verfolger hart im Nacken - Fersengeld geben muss: eigentlich eine konventionelle¸ sogar vordergründige Horrorgeschichte¸ wie es ihrer (zu) viele gibt.
Freilich muss man sie lesen um zu glauben¸ was H. P. Lovecraft daraus macht. Ihm geht es weniger um Handlung oder gar Action (obwohl er auch das beherrscht¸ wie die nächtliche Hetzjagd durch Innsmouth beweist). Das machen ihm vor allem moderne Leser gern zum Vorwurf.
Die erste Hälfte des ohnehin nicht umfangreichen Kurzromans ist eine Art Reisebericht mit historischen Einschüben. Lovecraft war als Wissenschaftler zwar Amateur¸ aber viel belesen. Besonders Geschichte war sein Steckenpferd. So baut er "Schatten über Innsmouth" auf einer fiktiven Historie dieser Stadt auf¸ die er geschickt in eine (weitgehend) reale Geschichte Neuenglands einbettet.
Die ausgedehnte Busfahrt nach und durch Innsmouth ist gleichzeitig ein geschickter Schachzug¸ der den Leser zusammen mit der Hauptfigur dem Ort des Geschehens näher bringt. Unmerklich dreht Lovecraft dabei an der Spannungsschraube. Ganz harmlos beginnt die Reise¸ nur einzelne¸ nicht ins Bild des Rationalen passende Elemente irritieren. Allmählich nehmen sie an Zahl und Wucht zu¸ bis schließlich deutlich wird¸ dass es in Innsmouth nicht mit rechten Dingen zugeht.
Die Bestätigung erhalten wir - erneut gemeinsam mit dem Helden - durch die lebendige Erzählung des alten Zadok Allen¸ der seit vielen Jahrzehnten unter dem Druck des Grauens lebt. Darüber ist er leicht wunderlich im Kopf geworden¸ was Lovecraft erneut meisterlich als Stilelement nutzt: Obwohl Allen Klartext redet¸ bleibt weiterhin Vieles ungesagt¸ die Spannung steigt weiter an.
Der eigentliche Höhepunkt stellt die Freunde des konventionellen Horrors zufrieden¸ wenn es zwischen geifernden Monstern und potenziellem Opfer zum finalen Showdown kommt. Für Lovecraft speist sich das eigentliche Grauen allerdings aus einer anderen Quelle. Die eigentliche Auflösung wird der Handlung wie eine Coda angefügt. Sie soll hier verschwiegen werden; vielleicht überrascht sie heute auch nicht mehr¸ aber sie beraubt die Geschichte ihres scheinbar glücklichen Endes und verleiht ihr eine deutlich düstere Dimension.
Wobei "Horror" den Nagel ohnehin nur halb auf den Kopf trifft. Der Cthulhu-Mythos ist unbestritten eher Science-Fiction. "Schatten über Innsmouth" betont dieses Element zwar weniger stark als andere Geschichten der Saga. Doch kamen nach Lovecraft Cthulhu und seine vielen garstigen Gefährten einst aus den Tiefen des Alls auf diese Erde. Sie beschränken sich auch beileibe nicht nur darauf uns Menschen zu piesacken¸ sondern treiben auch weiterhin zwischen den Sternen allerlei Unerfreuliches.
Lovecrafts Meisterschaft bestand darin¸ die Chronik dieser Invasion niemals gänzlich zu enthüllen. Stets enttarnte er nur Episoden¸ die sich zu keinem fassbaren Gesamtbild fügen. Des Lesers Fantasie ist hier gefragt - er (oder sie) wird sich ein Reich kosmischen Schreckens ausmalen¸ das Lovecraft nie hätte erfinden können.
Nicht dass er es nicht versucht. "Schatten über Innsmouth" dokumentiert auch Lovecrafts nimmermüden Versuch¸ das Grauen in Worte zu fassen. Sein Wortschatz war immens¸ sein Talent im Umgang mit Worten beachtlich. Trotzdem muss man der Kritik zugestehen¸ dass die Auflösung einer Lovecraft-Story allzu oft ihrer Entwicklung nicht gewachsen ist. Auch hier fällt eine barmherzige Ohnmacht den Helden¸ als der Schrecken zu groß wird (und der Verfasser literarisch die Waffen streckt).
Der namenlose Protagonist unserer Geschichte ist eine typische Lovecraft-Figur: ein Außenseiter¸ ein einsamer Sucher ohne Anhang. Eine respektable Familiengeschichte endet in der Gegenwart in Bedeutungslosigkeit und Armut. Eisern werden trotzdem längst obsolete Gentleman-Allüren gepflegt¸ bleiben die Formen gewahrt¸ mag auch das typische Mittagessen nur aus Käseplätzchen bestehen.
Hier greift Lovecraft auf eigene Erinnerungen zurück. Der "Einsiedler von Providence"¸ wie man ihn gern nennt¸ wurde nämlich in seinen späteren Jahren zum begeisterten Reisenden¸ der zwar ohne Geld¸ aber ausgiebig jene historischen Stätten in Nordamerika besichtigte¸ die ihn Zeit seines Lebens faszinierten.
So ist es wohl eine jüngere Ausgabe von Lovecraft selbst¸ die das imaginäre Innsmouth bereist. Ausgerechnet dort findet sie nach anfänglichem Schrecken so etwas wie eine Heimat - ein Ort¸ der dem Verfasser selbst stets verwehrt blieb.
Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence¸ Rhode Island¸ geboren. Mütterlicherseits konnte er seine Familiengeschichte bis ins frühe 17. Jh. zurückverfolgen. Darauf war er überaus stolz¸ wozu die Gegenwart wenig Anlass bot. Lovecrafts Vater¸ ein Handelsvertreter¸ starb bereits 1898 im Wahnsinn.
Die ebenfalls labile Mutter und zwei Tanten zogen Howard auf¸ der sich bereits als Wunderkind erwiesen hatte. Er konnte mit drei Jahren lesen und begann mit sechs zu schreiben. Die arabische Vorgeschichte¸ dann das griechische Altertum begeisterten ihn. Er begann alle erreichbaren Werke zu lesen und entwickelte sich zum belesenen¸ aber nicht wirklich gebildeten Bücherwurm. Am Alltagsleben nahm er praktisch nicht teil¸ litt unter (psychosomatischen) Beschwerden¸ besuchte nur sporadisch die Schule. Statt dessen vergrub Howard sich daheim und widmete sich seinen privaten Studien¸ die er mit enormem Enthusiasmus betrieb. Er gab mehrere hektografierte Journale heraus¸ die von seiner Begeisterung für Naturwissenschaft und Astronomie kündeten¸ und unterhielt einen enormen Briefwechsel.
Nach ersten Versuchen Anfang des Jahrhunderts begann Lovecraft 1917 "ernsthaft" phantastische Kurzgeschichten zu schreiben. Bisher hatte er Poesie und Essays den Vorzug gegeben. 1924 heiratete Lovecraft und zog mit seiner Gattin nach New York. Dort kam er in Kontakt mit den zu diesem Zeitpunkt aufstrebenden "Pulp"-Magazinen¸ die zwar schlecht zahlten¸ aber stets neues Material suchten.
In der großen Stadt konnte sich Lovecraft nicht einleben. Die Ehe scheiterte. Schon 1926 kehrte Lovecraft nach Providence zurück. In den zehn Lebensjahren¸ die ihm noch blieben¸ führte er das zurückgezogene und sehr bescheidene Leben eines mäßig erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers. Als solcher machte er beachtliche Fortschritte und schuf die Cthulhu-Saga. "The Call of Cthulhu" (1926)¸ "At the Mountains of Madness" (1931¸ dt. "Berge des Wahnsinns") oder "The Shadow out of Time" (1934/35¸ dt. "Der Schatten aus der Zeit") stellen Höhepunkte der Phantastik dar.
Freilich blieb dies lange unbemerkt. Lovecraft verfügte nie über die Energie oder das Selbstbewusstsein¸ aktiv an seiner Karriere zu arbeiten. Seine Werke erschienen unter Wert in billigen Magazinen¸ wo sie die Leser oft genug irritierten¸ wenn sie nicht sowieso von den Herausgebern abgelehnt wurden. Lovecraft versuchte nie¸ diese Geschichten anderweitig unterzubringen¸ sondern schrieb neue - kein ökonomisches Gebaren für einen Schriftsteller¸ der ohnehin recht langsam schrieb. Zu seinen Lebzeiten erschien überhaupt nur ein Buch - "The Shadow over Innsmouth" - in einem obskuren Kleinverlag. Am 15. März 1937 erlag H. P. Lovecraft einem Krebsleiden.
Dass er nicht in Vergessenheit geriet¸ verdankt er den Bemühungen zweier junger Lovecraft-Verehrer. August Derleth und Donald Wandrei gründeten 1939 den Verlag "Arkham House"¸ um Lovecrafts Werk zu veröffentlichen. Nach schwierigen Anfängen traten Cthulhu & Co. einen bemerkenswerten Siegeszug an. In der phantastischen Literatur nimmt H. P. Lovecraft längst den ihm gebührenden Platz ein - zeitlich hinter¸ aber nicht unter Edgar Allan Poe: ein kauziger¸ allzu sehr in Adjektive verliebter¸ aber origineller Mann mit großen Visionen¸ der den klassischen Horror um die Komponente Science-Fiction erweiterte¸ ohne dem Gernsbackschen Traum von der perfekten¸ weil technisierten Zukunft hinterher zu laufen. Stattdessen schuf Lovecraft etwas Eigenständiges: ein alternatives Universum mit eigenen Naturgesetzen¸ so konsistent in seiner Darstellung¸ dass es uns¸ die wir um seine fiktive Gestalt wissen¸ eben doch möglich erscheint.
Über H. P. Lovecraft und sein Werk äußern sich unzählige Websites. Eine der schönsten ihrer Art stellt http://www.hplovecraft.com dar. Hinzuweisen ist auf die reiche Sammlung von Links auf andere Seiten.
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/
